Oma Betty

Oma Betty. Eine Erinnerung. 

Vor fast zwei Jahren schrieb ich für die Zeitschrift Publik Forum ein »Sozialprotokoll« über meine Oma. In diesem Format kommen Menschen selbst zu Wort, die etwas Besonderes erlebt haben. Meine Oma floh nach dem Zweiten Weltkriege vor den russischen Soldaten und kam so von Pommern nach Süddeutschland – diese Geschichte habe ich oft gehört. Später hatte sie in ihrem Haus vier Mieter, die aus Syrien geflüchtet waren. Mit ihnen hatte sie viel gemeinsam. Die Liebe zum Gemüsegarten, zum Beispiel. Vor wenigen Tagen ist meine Oma gestorben. Eine Erinnerung:

Oma Betty erzählt: »Man weiß im Leben nie, wie’s weiter geht. Wenn ich aus meinem Küchenfenster auf den Hof schaue, hat sich viel verändert. Da hinten steht noch der alte Brunnentrog von damals, als wir einzogen. Aber der Kirschbaum ist weg, und auch die Hasenställe. Viele Pflastersteine auf dem Hof habe ich im Lauf der Jahre selbst gesetzt. Vor zwanzig Jahren kam mir mitten in der Nacht die Idee, hinten am Haus anzubauen. Heute vermiete ich drei Wohnungen. Dass alle meine Mieter aus Syrien geflüchtet sind, ist eigentlich ein Zufall. Und irgendwie auch nicht.

Dieser Hass gegenüber Flüchtlingen, den habe ich auch erlebt. Besonders hart war’s bei uns in Mecklenburg, wo wir nach unserer Ausweisung aus Pommern nach dem Krieg bei einem Bauern einquartiert wurden. Er ließ uns nicht einmal in seine Küche, obwohl er Deutscher war wie wir. Wir mussten unsere Kartoffeln im Zimmer im Heizofen backen. Wir wohnten zu fünft auf zwölf Quadratmetern: Mutti, meine drei kleinen Geschwister und ich. Meine großen Schwestern waren weg in den Westen. Vati war in polnischer Gefangenschaft, seit uns bei unserer ersten Flucht vor der Front die Russen eingeholt hatten. Unser russischer Zwangsarbeiter, der Alex, hatte sich dafür eingesetzt, dass er nicht erschossen wurde. Wir Kinder haben Alex geliebt und mit ihm herumgetobt, als wir noch auf unserem Bauernhof in Antonswalde lebten.

Zwei meiner Mieter hatten auch Landwirtschaft in Syrien. Einer von ihnen pflanzt im Gemüsegarten Mini-Auberginen an, die Samen hat er aus der Heimat. Der kleine Junge, der jetzt über mir wohnt, ruft »Oma, Oma«, wenn er mich sieht. Kürzlich war er mit seiner Familie wochenlang verreist. Sie haben die Großeltern besucht, die in einem Nachbarland von Syrien leben. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil sie so lange nicht zurückkamen. Die Mutter des jungen Studenten, der bei mir im Dachgeschoss wohnt, kenne ich. Sie lebt in Offenburg. So wie wir damals, als wir endlich die Genehmigung bekommen hatten, nach Süddeutschland zu ziehen.

Das war im Jahr 1952. Ich war 19 Jahre alt und hatte ich mich wieder erholt von den Krankheiten der Reise: Gelbfieber, Rippenfell-, Lungen- und Hirnhautentzündung. Wir waren vier Tage lang in einem Kohlewaggon transportiert worden und ich streckte unterwegs immer den Kopf hinaus, weil ich in dem staubigen Wagen kaum Luft bekam. Durch den Luftzug muss ich mir die Krankheiten eingefangen haben. Auch die schlimmen Bilder im Kopf waren schwächer geworden. Ich hatte gesehen, was die russischen Soldaten nachts mit den jungen Frauen und Mädchen machten. Auch mit meiner Schulkameradin, die älter aussah als ich. Sie blutete den ganzen Tag zwischen den Beinen.

Jedenfalls hielt ich es im Offenburger Flüchtlingslager nicht lange aus. In Basel bekam ich eine Anstellung als Hausmädchen, die Hausherrin kam auch aus Pommern. Als meine Familie 1952 nach Amerika ging, war ich schon mit Heinrich verlobt und blieb hier, schweren Herzens, denn gern wäre auch ich Amerikanerin geworden.

Ob meine Mieter sich auch eines Tages etwas Eigenes aufbauen können? Ich weiß es nicht. Der eine arbeitet in einem Dönerladen, der andere ist Friseur. Aber der junge Student hat mich gefragt, ob er im Schopf eine Maschine aufstellen kann. Er möchte sich selbständig machen. Bei uns war es damals so, dass arme Leute und die Flüchtlinge aus dem Osten ein Darlehen vom Staat bekamen. Alle Häuser auf unserer Straßenseite wurden so finanziert. Ich wohnte mit Heinrich bei seinen Eltern in einem Zimmer. Als mein Schwiegervater hörte, dass zwei Häuser weiter eins zum Verkauf stand, meldete er sich für uns. Und weil meine Eltern noch kein Darlehen aufgenommen hatten, bekam ich es. So wurde ich zur Besitzerin dieses Hauses.

Als vor einigen Jahren die vielen Flüchtlinge aus Syrien kamen, berieten wir in der Gemeinde, was zu tun sei. Ein Mann, den ich seit vielen Jahren kenne, sprach sich sehr gegen die fremden Muslime aus. Ich nahm ihn beiseite und sagte: »Wenn du gegen diese Menschen bist, bist du auch gegen uns. Sie sind aus ihrer Heimat vertrieben worden wie wir.« Später hat er sich vor der ganzen Gemeinde entschuldigt.

Als Vati in polnischer Kriegsgefangenschaft einen schweren Asthmaanfall bekam, warf man ihn in den Leichengraben. Er rechnete die Himmelsrichtung aus und floh nach Westen. Es war eine polnische Familie, die ihn aufnahm und neu einkleidete. Dann gaben sie ihm eine Adresse dreißig Kilometer westlich, wo er am nächsten Tag unterkommen konnte. So schaffte er es, zu Fuß jeden Tag ein Stück weiterzukommen und uns zu finden. Ob Menschen sich helfen, das hängt nicht von ihrer Nation ab. Sondern vom Herzen.«

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